Interview mit Alaric Searle (Salford, UK)
Alaric Searle
Interview
Veröffentlicht am: 
27. September 2012

Zum Start des Portals lassen eine Reihe prominenter Vertreter des Fachs die Entwicklung der Militärgeschichtsschreibung im deutschsprachigen Raum Revue passieren und wagen den Ausblick in die Zukunft. Die Interviewfolge wird von Dr. Alaric Searle fortgesetzt. Er ist Reader in Military History an der University of Salford und Vorstandsmitglied des Arbeitskreises Militärgeschichte e.V.

Wie hat sich die deutschsprachige Militärgeschichtsschreibung in den vergangen 25 Jahren entwickelt?

Die Entwicklung ist als rasant zu charakterisieren. Die Zahl der Veröffentlichungen ist beeindruckend und fast jede Epochen wird abgedeckt. Vor allem wird heutzutage nicht mehr behauptet, dass Militärgeschichte nur einer Sache des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes (MGFA) sei. Es ist inzwischen auch völlig normal, dass jüngere Wissenschaftler aus allen Epochen der Geschichtswissenschaft auf die Idee kommen, eine Tagung zu einem militärgeschichtlichen Thema zu organisieren. Kurz gesagt: Ungefähr seit der Wiedervereinigung hat sich an den Universitäten allmählich eine Akzeptanz gegenüber der Militärgeschichte ausgebildet, die in den 1980er Jahren undenkbar gewesen wäre.

Wo steht die deutschsprachige Militärgeschichtsschreibung heute im Vergleich zum Ausland?

In einigen Bereichen ist sie der Forschung im angelsächsischen Raum sogar weit voraus, vor allem in der Frühen Neuzeit. Besonders der kulturgeschichtliche Zugang, die Offenheit gegenüber neuen Methoden sowie bei der gründlichen Aufarbeitung der Geschichte der Wehrmacht kann die deutschsprachige Forschung sehr gut mit dem Ausland mithalten. Darüber hinaus gibt es wichtige Themenbereiche, die hauptsächlich in der deutschsprachigen Forschung behandelt werden. Prominentestes Beispiel hierfür ist sicherlich die Geschichte der Nationalen Volksarmee.

Einige Kernbereiche des Faches wurden jedoch bis heute mehr oder weniger außen vor gelassen. Einige heiße Eisen, häufig irreführend als "Operationsgeschichte" bezeichnet, will man noch nicht richtig anfassen. Im Grunde genommen geht es um die rein militärischen Themen. Ich denke hier an Operationsplanung, Strategie, Militärdoktrin und die dem zugrunde liegende Militärtheorie.

Obwohl der Begriff "Operationsgeschichte" als Synonym für die Kernbereiche der Militärgeschichte verwendet wird, verstehen manche darunter die amtliche Geschichtsschreibung. Anders als in Großbritannien gab es in der Zwischenkriegszeit keine öffentliche Auseinandersetzung um die Problematik der "Official History". Deswegen gibt es immer noch Bedenken gegen eine Militärgeschichte, die sich mit eher klassischen Themen beschäftigt. Vordergründig will man weg von den alten Generalstabs- und Schlachtengeschichte, als ob diese ungebrochen nach 1945 überlebt hätte. Eigentlich handelt es sich aber eher um ein diffuses Unbehagen, wenn es um die Kernbereiche der Militärgeschichte geht. Da diese Kernbereiche jedoch noch nicht in der Forschungslandschaft verankert sind, kann man schlecht zu diesen zentralen Fragen der Disziplin arbeiten. Ich denke hier an Fragestellungen wie zum Beispiel: Gab es einen faschistischen Krieg? Ist Militärdoktrin frei von Ideologien? Hier gibt es immer noch einen gewissen Nachholbedarf im deutschsprachigen Raum. Diese Beobachtung schmälert aber nicht die großen Leistungen der letzten zwanzig Jahren. In Großbritannien wird Militärgeschichte ja teilweise nur in diesem klassischen Sinne verstanden - auch das ist natürlich ein unbefriedigender Zustand.

Um eine kurze Bilanz zu ziehen: Gegenüber der angelsächsischen Forschungslandschaft kann es als positiv bewertet werden, dass es in Deutschland Forschungseinrichtungen in Deutschland wie das MGFA und das Institut für Zeitgeschichte (IfZ) gibt, die wirkliche Grundlagenforschung betreiben. Im Vergleich zu Großbritannien ist es darüber hinaus in Deutschland einfacher, die Finanzierung für eine Dissertation aufzutreiben. Deswegen werden hier weiterhin gute Dissertationen erscheinen. In der Produktion wissenschaftlicher Militärgeschichte ist Deutschland Großbritannien auf jeden Fall überlegen, sowohl quantitativ als auch qualitativ, und das wird mittelfristig auch wohl so bleiben. Ein besonderes, strukturelles Problem stellt allerdings die geringe Präsenz der Militärgeschichte an den Universitäten dar. Dass bedeutet nicht, dass man als Militärhistoriker nicht auch an britischen Universitäten mit erheblichen Herausforderungen konfrontiert wäre. Das Hauptproblem ist es aber, dass die militärgeschichtliche Lehre an deutschen Universitäten nur sehr sporadisch stattfindet. Einzelne Historiker machen ein paar Veranstaltungen darüber, kehren aber selten zum Thema zurück. Auf der anderen Seite findet die Grundlagenforschung an Instituten statt. Dort wiederum kann man sich um die Lehre meist nur nebenbei kümmern. In der Regel tun das Habilitierte, die ihren Lebenslauf "abrunden" wollen. Diese stehen auch häufig unter Zugzwang, die neuesten Trends der allgemeinen Geschichtswissenschaft abzudecken.

Wie geht es weiter? Inzwischen sind einige Desiderate der 1990er Jahre abgearbeitet worden. Jetzt geht es hauptsächlich um die methodische als auch inhaltliche Erweiterung des Faches. Man muss nun mehr darüber nachdenken, wie die diversen Strömungen in einer kohärenteren Einheit zusammen geführt werden können. Es sollten überhaupt mehr Überlegungen zu den großen Fragen des Faches angestellt werden. Und natürlich, wenn man Vergleiche mit dem Ausland zieht, sollte man eventuell auch über bessere internationale Zusammenarbeit in Bezug auf vergleichende Fragestellungen nachdenken.

Welche aktuellen, inhaltlichen oder methodischen Entwicklungstendenzen halten Sie für bedeutend?

Was die deutschsprachige Forschung angeht, gibt es einige klare Tendenzen, die sich in den letzten zwei Jahrzehnten herauskristallisiert haben. Eine Tendenz ist offensichtlich, muss aber trotzdem erwähnt werden: die Flut von Veröffentlichungen über die Verstrickung der Wehrmacht in Verbrechen des NS-Regimes. Abgesehen von dieser sehr notwendigen Entwicklung gibt es eine Reihe weiterer Tendenzen in der Forschung, die zu beobachten sind.

Dazu gehört für mich die Offenheit gegenüber neuen Methoden und vor allem Quellen, die man vor zwanzig, dreißig Jahren kaum eines Blickes gewürdigt hat. Ich denke nicht nur an Ego-Dokumente sondern auch an Denkmäler, Postkarten und andere Artefakte. Wichtig ist auch die Bereitschaft, mehrere Epochen als Teil einer Gesamtstudie "gleichzeitig" zu analysieren. Das ist besonders wichtig, wenn man die Nachwirkung eines Krieges in Friedenszeiten analysieren will. Auch die Militärgeschichte von Unten ist ein anhaltend wichtiges Thema. Interessant finde ich auch die Geschichte von Waffentechnologie und die damit verbundenen moralische Fragen. Die Aktualität dieser Fragestellung zeigt sich in der Geschichte des Luftkrieges im 20. Jahrhundert, aber auch anhand ganz aktueller Fragen wie der Diskussion um Drohneneinsätze. Nicht zu vergessen ist auch die Bedeutung vom Militär in Friedenszeiten. Obwohl dieser Aspekt der Militärgeschichte offensichtlich sein sollte - schließlich bin ich Militär- und kein Kriegshistoriker -, ist er erst in den letzten Jahren erneut ins Bewusstsein eingedrungen. Ganz wichtig ist auch die Frage der militärischen Mentalitäten, was man besonders anhand der neuesten Wehrmachtforschung beobachten kann. Schließlich wird sicher auch die Forschung zur deutschen Militärgeschichte nach 1945 an Bedeutung gewinnen.

Dies sind nur einige methodische wie inhaltliche Trends. Allerdings bin ich der Meinung, dass die Geschichte der Militärtheorie von zentraler Bedeutung ist und ferner, dass die Geheimdienstgeschichte nicht von der Militärgeschichte zu trennen ist. Ich hoffe, dass diese zwei Bereiche in Zukunft mehr in den Vordergrund treten werden.

Wie hat sich die institutionelle Verankerung der Teildisziplin an den Universitäten entwickelt?

Hier muss man, wie gesagt, eine gemischte Bilanz ziehen. Einerseits sind wir jetzt - etwas pointiert formuliert - so weit, dass nur noch wenige Professoren mit offener Ablehnung reagieren würden, wenn jemand an die Tür klopft, um ein militärgeschichtliches Thema für eine Dissertation oder Habilitation vorzuschlagen. Hier würden normalerweise nur noch Fragen der wissenschaftlichen Qualität und der Realisierbarkeit eines solchen Projektes aufgeworfen werden, aber nicht mehr die Frage, ob Militärgeschichte überhaupt als Teildisziplin "legitim" sei oder nicht. Es gibt dafür inzwischen einfach zu viele einschlägige Werke von enormer wissenschaftlicher Qualität.

Andererseits ist die Bilanz bei einer näheren Betrachtung ernüchternd. Es gibt immer noch nur einen einzigen Lehrstuhl für Militärgeschichte in Deutschland. Nach der Flut von Publikationen in den letzten 20 Jahren hätte ich erwartet, dass mindestens ein weiterer Lehrstuhl mit Schwerpunkt Militärgeschichte entstanden wäre.

Dass es nicht zur eine erforderlichen Anerkennung der Leistungen der vielen Fachhistorikerinnen und -historikern gekommen ist, hat mehrere Gründe. Einer davon ist das Schubladendenken, das immer noch an den deutschen Universitäten herrscht. An sich müsste ein Lehrstuhlinhaber in der Lage sein, über die gesamte Militärgeschichte seit 1500 zu lehren. In der Regel werden jedoch Lehrstühle auf Alte Geschichte, Mittelalter, Frühe Neuzeit sowie Neueste und Zeitgeschichte ausgerichtet. Häufig wird dann auch noch ein Länderspezialist gesucht, nicht jemand, der bereit und in der Lage ist, mehrere Länder in die Lehre einzubeziehen. Von daher ist die Grundstruktur der Historischen Seminare nicht gerade hilfreich für die weitere Entwicklung der Militärgeschichte in Deutschland.

Ein weiterer Aspekt ist sicherlich, dass das Fach Geschichte zu einem gewissen Grad von den üblichen Moden und populären Trends beeinflusst wird. Mal ist es die Kulturgeschichte, mal die "transnational history" oder die Mediengeschichte. Militärgeschichte wird es schwer haben modisch sein, weil man es letztendlich mit einem Fach zu tun hat, das sich mit den "harten Fakten" der Politik auseinandersetzt. Es spielt allerdings noch ein weiterer Faktor eine Rolle. Die grundlegende Komplexität des Systems Militär eignet sich nur sehr bedingt für einen schnellen und Erfolg versprechenden Einstieg. Ein diesbezügliches Gespräch mit einem amerikanischen Kollegen während einer Straßenbahnfahrt in Freiburg ist mir besonders in Erinnerung geblieben. Der Kollege war Frankreichspezialist und Sozialhistoriker und hat sich relativ spät in seiner Karriere für die Schlacht von Verdun interessiert. Nach einem Tag im dortigen Militärarchiv, bemerkte er: "The problem with military history is that it is just so easy to make mistakes." Er hat damit zum Ausdruck gebracht, dass man jede Menge Detailwissen besitzen muss, um ordentlich Militärgeschichte zu schreiben. Man muss die Organisation von militärischen Verbänden verstehen, die Fachterminologie, Fragen des inneren Gefüges, muss über Waffensysteme und Mentalitäten Bescheid wissen. Dieses Fachwissen kann man sich nicht auf die Schnelle in ein paar Jahren aneignen. Deswegen ist meine Reaktion auf die Frage etwas verhalten. Trotz aller großen Leistungen der letzten Jahre ist das Fach an den Universitäten immer noch unterrepräsentiert, was ein bedeutender Mangel für die Geschichtswissenschaft im Allgemeinen ist.

Welche Rolle haben ihrer Meinung nach wissenschaftliche Zusammenschlüsse wie der Arbeitskreis Historische Friedensforschung, der Arbeitskreis Militärgeschichte oder der Arbeitskreis Militär und Gesellschaft in der frühen Neuzeit bei der Entwicklung der Teildisziplin gespielt?

Zweifellos ist der Arbeitskreis Militärgeschichte (AKM) von nicht zu unterschätzender Bedeutung für die beschriebene Entwicklung der Militärgeschichte. Ich will hier die Verdienste der zwei anderen Arbeitskreise nicht schmälern, aber im Falle des Arbeitskreises Historische Friedensforschung ist der Grundgedanke eher politischer, was natürlich völlig legitim ist. Im Falle des Arbeitskreises Militär und Gesellschaft in der frühen Neuzeit liegt die Relevanz auf der Hand: Jeder, der die Geschichte der frühen Neuzeit studiert, weiß, dass man die Entstehung des modernen Staates ohne den Krieg überhaupt nicht verstehen kann. Allerdings haben die Kollegen aus der Frühen Neuzeit wohl nicht mit ähnlich starken Vorbehalten und Misstrauen kämpfen müssen, wie das bei den Neuzeitlern der Fall gewesen ist. Der große Verdienst des AKM war und ist es, die Militärgeschichte in Deutschland endlich aus der politischen Schmuddelecke geholt zu haben. Wir sollten nicht vergessen, dass in den 1980er Jahren an den deutschen Universitäten die Meinung weit verbreitet war, nur Bundeswehr-Offiziere würden Militärgeschichte studieren. Militärhistoriker galten oftmals als eine giftige Mischung aus ehemaligen Offizieren zweifelhafter politischer Couleur, Technikfetischisten und Rechtsextremisten.

Warum das so war, liegt historisch auf der Hand, und Deutschland wäre mir als Land wesentlich unsympathischer, wenn es anders gewesen wäre. Im Falle des Umgangs mit der Militärgeschichte in Deutschland war aber auch viel Unsinn im Spiel. Keiner würde sagen: "Weil ich Mitglied der Partei X bin, lehne ich das Studium der Wirtschaftswissenschaften ab. Es besteht sonst die Gefahr, dass die Studierenden als korrupte Banker enden könnten." Das Studium der Militärgeschichte ist primär ein Teil der Geschichtswissenschaft. Der Arbeitskreis Militärgeschichte hat es geschafft, die Beschäftigung mit der Militärgeschichte zu entpolitisieren und auf eine wissenschaftliche Ebene zu stellen. Das dies überhaupt gelungen ist, dürfte auf mindestens zwei Leitgedanken zurückzuführen sein: Zum einen hat der AKM stets versucht, seine Jahrestagungen Epochen übergreifend zu konzipieren, zum anderen war es immer eines der Hauptziele, auch jüngere Wissenschaftlerinnen bei der Beschäftigung mit der Militärgeschichte zu unterstützen. Dass Frauen sich jetzt an die Militärgeschichte herantrauen, hat auf jeden Fall zur Entpolitisierung in Deutschland beigetragen. Als Mitglied des Vorstands des AKM bin ich hier vermutlich befangen. Aber als Nichtdeutscher meine ich doch, die Situation aus einer anderen Perspektive beurteilen zu können.

Welche Rolle haben Ihrer Meinung nach Einrichtungen der außeruniversitären Forschung wie das Institut für Zeitgeschichte, das Hamburger Institut für Sozialforschung oder das Militärgeschichtliche Forschungsamt bei der Entwicklung der Teildisziplin gespielt?

Alle drei haben ihre Lorbeeren in den letzten zehn bis 15 Jahre verdient. Die Institute in Hamburg und in München haben durch finanzielle, institutionelle und andere Formen der Unterstützung sicherlich die Entwicklung der Militärgeschichte weiter vorangebracht. Sie haben mehrere Werke veröffentlicht, die zu einem breiteren Verständnis der Militärgeschichte beigetragen haben. Die Intensivierung der Forschung über die Wehrmacht ist zum großen Teil ein Verdienst des HIS. Ohne die Wehrmachtsausstellung - damals übrigens noch mit tatkräftiger Unterstützung eines Herrn Gauweiler - wären viele wichtige Projekte nie zustande gekommen. In letzter Zeit hat das Institut für Zeitgeschichte durch die Veröffentlichungen über Kriegsverbrechen im Zweiten Weltkrieg einen wichtigen Beitrag zur deutschen Militärgeschichte beigesteuert. Ich nenne nur die Arbeiten von Johannes Hürter, Christian Hartmann, Peter Lieb, Dieter Pohl und Thomas Schlemmer. Aber beide Institute sind nicht primär da, um Militärgeschichte zu betreiben.

Vor allem das Militärgeschichtliches Forschungsamt hat einiges geleistet: An und für sich dürfte das nicht überraschen. Als Ausdruck der Verdienste des MGFA wird immer wieder - besonders im englischsprachigen Ausland - das zehnbändiges Reihenwerk "Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg" in den Mittelpunkt gestellt. Ich bin hier, muss ich zugestehen, andere Meinung darüber, wo die Verdienste des Amtes liegen. Es hat viel zu lange gedauert, bis alle Bände dieses Reihenwerkes erschienen waren. Zu einem Zeitpunkt, als russischen Quellen zum ersten Mal wirklich zugänglich waren, hat man sich hauptsächlich auf deutsche Quellen konzentriert. Ich finde die vier Bände zu den Anfängen westdeutscher Sicherheitspolitik beeindruckender, das gilt auch für die zahlreichen Aufsätze und Sammelbände, die Umfeld dieses Projektes entstanden sind. Das war wirklich geschichtswissenschaftliches Neuland und hat viele Historikern, unter anderem meiner Wenigkeit, die Chance überhaupt erst ermöglicht, in einen neuen und interessanten Forschungsbereich einzusteigen. Und in den letzten 15 Jahren hat die Forschung des Amtes zur Militärgeschichte der DDR eine beeindruckende Zahl von einschlägigen Werken vorgelegt. Die Bedeutung dieser Forschung reicht weit über den Tellerrand der deutschen Militärgeschichte hinaus. 40 Jahre "Stasi-Staat" waren eine sehr lange Zeit; es war aber nicht nur ein Überwachungsstaat von orwellschem Ausmaß, sondern auch ein militarisierter Staat, trotz aller Beteuerungen der SED über "Friedenssicherung". Deswegen gibt es eine große Notwendigkeit die Geschichte dieses Staates wirklich aufzuarbeiten und zu verstehen. Daher kann man den Beitrag des MGFA auf diesem Gebiet nicht genug loben.

Wie gestaltet sich das Verhältnis von akademischer Geschichtsschreibung und medialer Beschäftigung mit Themen der Militärgeschichte?

Kurz und bündig gesagt: Nicht immer segensreich! Einerseits ist eine öffentliche Geschichtskontroverse hilfreich für die Wissenschaft, weil Medieninteresse schneller hilft, Forschungsgelder locker zu machen, als fundierte, gut durchdachte Aufsätzen in Zeitschriften, die nur innerhalb der Zunft gelesen werden. Dies traf auf jeden Fall bei der Wehrmachtdebatte zu. Andererseits ist der permanente Druck seitens der britischen Universitäten, ihre Mitarbeitern und Professoren ständig vor Fernsehkameras sehen zu wollen, eine echte Pest. Das endet in einer Welt von 30-sekündigen "sound bites" und der Unfähigkeit, überhaupt noch ordentlich wissenschaftlich arbeiten zu können. Bevor ich mir hier aber den Mund verbrenne, sollte ich hinzufügen, dass die Sorgfalt bei der Recherche im öffentlich-rechtlichen Fernsehen hierzulande größer ist als in Großbritannien. Im "Ökosystem der Wissenschaft" muss man eben manchmal Kompromisse schließen. Abschließend denke ich, dass ist der Umgang mit den Medien grundsätzlich eine Typensache ist: Manche arbeiten so gerne, andere weniger. Ich gehöre zur letzteren Gruppe und finde es nur nervig, wenn ich Anrufe von Dokumentarfilmern bekomme, die meinen, ich sollte ihre Recherchearbeit kostenlos machen und dafür auch noch überglücklich sein.

Welcher Autor beziehungsweise welches wissenschaftliche Werk hat sie persönlich nachhaltig beeinflusst?

Entschuldigung, aber die Frage greift etwas zu kurz. Man wird nicht von nur einem Werk oder nur einem Autor allein nachhaltig beeinflusst. Wenn man nur von einer Person intellektuell geprägt wird, könnte das unglücklich enden. Ich bin von einer Reihe verschiedener Autoren und Bücher beeinflusst worden. Man erlebt als Historiker eine intellektuelle Entwicklung und diese fängt an, wenn man Geschichte studiert und ein Bewusstsein und Verständnis für historische Prozesse entwickelt. Diesbezüglich ist mir ein Buch, das ich als Student gelesen habe, in besonderer Erinnerung geblieben: Das war Martin Kitchens "The Political Economy of Germany 1815-1914" (1979). Hier habe ich zum ersten Mal das Zusammenspiel zwischen Außen- und Innenpolitik, die Entwicklung des Imperialismus in Deutschland und die Bedeutung von Lobbyorganisation im Bismarckschen Deutschland und im Kaiserreich begriffen. Die Themen sind zwar alle ausführlicher woanders behandelt worden, aber in diesem Buch war alles wunderbar und verständlich für den Einsteiger erklärt. Wenn es um Militärgeschichte geht, waren für mich sicherlich einige Werke der 1980er und 1990er Jahren von Bedeutung: Barry Posens "The Sources of Military Doctrine" (1984) etwa oder Williamson Murrays und Alan R. Milletts dreibändiges Werk über "Military Effectiveness" (1988), auch deren Band "Military Innovation in the Interwar Period" (1996). Es gibt viele sehr solide Monographien, beispielsweise Werke von Robert Doughty, Hew Strachan, David French, Martin van Creveld; die genannten Werke von Posen, Millett und Murray haben jedoch durchaus eine allgemeine wissenschaftliche Bedeutung gehabt und haben einige Anstöße für die Forschung gegeben. Ansonsten: Bis heute kann ich die älteren Werke von J. F. C. Fuller nur empfehlen, besonders "Armament and History" (1946). Wenn überhaupt jemand als Vorreiter eine moderne Militärgeschichte hervorgehoben werden kann, ist es er. Man muss nicht alle seiner Ansichten teilen. Er regt aber heute immer noch an, über die Militärgeschichte kritisch nachzudenken.

Welches Buch müsste längst einmal geschrieben werden?

Mein nächstes! Eine Studie über die Schriften J. F. C. Fullers und ihrer Bedeutung für die Militärtheorie und Militärdebatten der Zwischenkriegszeit. Ich brauche aber nur ein paar freie Monate, um das Manuskript in einer Monographie umzuwandeln.

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