Bayern 1918-1923
Christian Th. Müller
Buchbesprechung
Veröffentlicht am: 
16. März 2020

Im Herbst 2018 hat das Bayerische Armeemuseum in Ingolstadt den 100. Jahrestag der Ausrufung des Freistaats Bayern und der Novemberrevolution mit einer Sonderausstellung und einem umfangreichen Katalog gewürdigt. Letzterer knüpft thematisch an den vier Jahr zuvor erschienen und h i e r ebenfalls besprochenen Katalog „Der Große Krieg. 100 Objekte aus dem Bayerischen Armeemuseum“ an.

Wie Museumsdirektor Ansgar Reiß in seinem Vorwort hervorhebt, stellt sich die Ausstellung „Friedensbeginn?“, „der bayerischen Geschichte der Jahre 1918 bis 1923, als der brodelnde Bürgerkrieg mit der Niederschlagung des Hitlerputsches einen Höhepunkt und ein nur vorläufiges Ende fand.“ (11) Im Mittelpunkt steht die Geschichte der bewaffneten Macht in Bayern, in der sich die „Fragen des politischen, geistigen und kulturellen Umbruchs“ widerspiegeln.

Der Band gliedert sich in zwei Teile. Bevor im eigentlichen Katalogteil ab Seite 165 ausgewählte Exponate – Plakate, Fotos, Uniformen, Abzeichen und Waffen – der Ausstellung vorgestellt und knapp erläutert werden, wird in zehn Aufsätzen deren historischer Hintergrund ausgeleuchtet. Das Themenspektrum reicht dabei von den Anfängen des bayerischen Heeres bis zum Totengedenken nach dem Ersten Weltkrieg.

Den Auftakt bildet der Aufsatz von Dieter Storz und Daniel Hohrath über die Entwicklung und Tradition der bayerischen Armee vom 17. bis ins frühe 20. Jahrhundert. Anschließend beleuchtet Dieter Storz die Rolle der bayerischen Armee im Ersten Weltkrieg.

Bernhard Grau wendet sich dann dem eigentlichen Thema der Ausstellung, den turbulenten Ereignissen von Revolution und Räterepublik vom Sturz der Monarchie bis zur Rückeroberung Münchens durch „weiße“ Truppen zu. Anhand von Gerichtsakten zeichnet der folgende Aufsatz von Niels Ungruhe ein Soziogramm der „Roten Armee“ in München 1919. Über München und Bayern hinaus weist der Beitrag von Rüdiger Bergien, der anhand der Gründungsgewalt 1918/19 die Geburt der Weimarer Republik aus einer Politik der „eisernen Faust“ konstatiert.

Besonders bemerkenswert ist der Aufsatz von Peter Keller über die „Regierungstruppen“ der Jahre 1918/19 und die Entstehung des Freikorpsmythos. Kenntnisreich arbeitet Keller die Diversität der verschiedenen im Dienste der Regierung stehenden bewaffneten Formationen heraus. Diese reichte von Grenzschutzformationen über Volkswehren und Sicherungstruppen bis zu den vor allem aus Zeitfreiwilligen bestehenden „echten“ Freikorps zur Bekämpfung innerer Unruhen. Entstehungsmodi, Lebensdauer, Rekrutierungspraxis und Verpflichtungsmotive des rekrutierten Personals wiesen beträchtliche Unterschiede auf. Auf diese Weise dekonstruiert Keller den Anfang der 1930er Jahre unter nationalsozialistischen Vorzeichen entstandenen Freikorpsmythos, in dem der Begriff „Freikorps“ zur „Chiffre für eine paramilitärisch-voluntaristische Bewegung mutiert[e],die angeblich seit jeher auf das Regime Adolf Hitlers hingearbeitet hätte.“ (97)

In seinen Betrachtungen über die „bayerische“ Reichswehr 1919-1920 arbeitet Frank Wernitz die Bedeutung von Uniform und Abzeichen als Identitätsmarker heraus. An mehreren Beispielen zeigt er wie die Reichsregierung nach 1918 – etwa im Hinblick auf das Weitertragen der alten Kokarde sowie regions- bzw. verbandsspezifische Abzeichen – zumindest temporär Zugeständnisse an den Traditionalismus der Reichswehr im Allgemeinen sowie den Lokalpatriotismus ihrer bayerischen Verbände im Besonderen machen musste.

Einem bislang wenig beachteten Aspekt der ersten Jahre nach dem Ersten Weltkrieg in Bayern wendet sich Dieter Storz in seinem Aufsatz über die Einwohnerwehr Bayern zu. Mit einer Kopfstärke von 260.000 Mann Ende 1919 und immerhin 360.000 Mann 1921 stellte sie einen bedeutenden Faktor in der Sicherheitsarchitektur des jungen Freistaates dar. (120) Ihre lokalen Einheiten sollten zunächst vor allem die Defizite der infolge des Ersten Weltkrieges massiv geschwächten Polizeikräfte kompensieren. Gleichzeitig wirkten sie komplementär zu den mit der Niederschlagung politischer Unruhen beschäftigten Freikorps. Als ortsgebundenen, nicht-militärischen Schutzverbänden fiel ihnen die Aufgabe zu, „unruhige Elemente“ allein durch ihre Existenz in Schach zu halten und so die traditionelle bürgerliche Ordnung zu sichern. (118) Im soziopolitischen Zuschnitt zunächst betont überparteilich organisiert, gaben bald stramm konservative Kräfte den Ton an, die sich von der sozialdemokratischen Landesregierung distanzierten und die Einwohnerwehr ab Anfang 1920 zu einem tragenden Element der „Ordnungszelle Bayern“ machten. Dazu gehörte auch, dass sie in großer Zahl Waffen der alten bayerischen Armee übernahmen, illegal Waffen für die Schwarze Reichswehr versteckten und schließlich den Aufbau der österreichischen Heimwehrbewegung unterstützten – bevor sie 1921 auf Druck der Entente aufgelöst wurde.

In unmissverständlicher Klarheit verdeutlicht der Band auch die Relation zwischen dem in der antibolschewistischen Propaganda dämonisierten „roten“ und dem im Vergleich dazu exzessivem „weißen Terror“, dem Hunderte Menschen zum Opfer fielen. Ein besonders drastisches Beispiel schildert Dieter Storz in seinem Beitrag über den Mord an 21 Mitgliedern des katholischen Gesellenvereins St. Joseph am Abend des 6. Mai 1919. Obschon allesamt Mitglieder der Bayerischen Volkspartei wurden sie bei einer Vereinssitzung von Freikorpssoldaten verhaftet und zum Prinz-Georg-Palais gebracht. Bereits auf dem Wege dorthin wurden die vermeintlichen „Spartakisten“ von aufgebrachten Soldaten schwer misshandelt. Ohne dass auch nur ihre Identität überprüft worden wäre, wurden sie in den Keller des Palais‘ getrieben, wo sie unter exzessiver Gewaltanwendung ermordet wurden. Anders als in den meisten anderen Fällen wurde dieses Verbrechen – wohl nicht zuletzt auf Druck der einflussreichen Bayerischen Volkspartei – juristisch aufgearbeitet und zumindest zwei der Täter wurden wegen Totschlages zu je 14 Jahren Haft verurteilt. (139)

Den Abschluss des Aufsatzteils bildet ein Beitrag von Frank Henseleit über die Praxis des Totengedenkens am Beispiel des „Gefallenen Soldaten“ im Münchner Kriegerdenkmal und die damit verbundene öffentliche Diskussion vom Ende des Ersten Weltkrieges bis zum Ende des 20. Jahrhunderts.

Insgesamt haben die Herausgeber Dieter Storz und Frank Wernitz wieder einen optisch und inhaltlich ansprechenden Ausstellungsbegleitband vorgelegt, der fundiert und facettenreich über die Nachkriegswirren in Bayern zwischen 1918 und 1923 informiert.

Der Katalog kann h i e r als pdf-Datei heruntergeladen werden.

 

Friedensbeginn? Bayern 1918-1923, Hrsg. von Dieter Storz und Frank Wernitz, Theiss in Wissenschaftliche Buchgesellschaft: Ingolstadt Darmstadt 2018 (=Kataloge des Bayerischen Armeemuseums, Band 18), 384 S., Abb., 25,00 €, ISBN 978-3-8062-3900-3.

Regionen: