Friederike Höhn / John Zimmermann
Exkursionsbericht
Veröffentlicht am: 
16. Dezember 2013

2014 jährt sich der Beginn des Ersten Weltkrieges zum 100. Mal. Das Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr nahm dies im September diesen Jahres zum Anlass, eine militärhistorische Exkursion in den Raum der Schlacht von Tannenberg durchzuführen. Dieser markiert gleich in mehrfacher Hinsicht einen Erinnerungsort des deutschen und polnischen, aber auch des litauischen und russischen nationalen Gedächtnisses. Während sich die deutsche und russische Annäherung dabei vor allem auf die Schlacht des Ersten Weltkrieges konzentriert, fokussiert die polnische und insbesondere die litauische Perspektive die Schlacht bei Grunwald/Zalgiris 1410. Seinerzeit hatte ein gemeinsames polnisch-ruthenisch-litauisches Heer den Deutschen Ritterorden vernichtend geschlagen. Diese doppelte Besetzung des Ortes hatte auch Hindenburg, der eigens ernannte deutsche Oberbefehlshaber, im Blick, als er der Weltkriegsschlacht ihren Namen verlieh. Letztlich vereinigt der Raum Tannenberg damit Erinnerungsstrukturen aus mehreren Jahrhunderten und wenigstens vier Ländern. An diesem Ort können folglich nicht (militär)historische Ereignisse allein wissenschaftlich aufgearbeitet werden, sondern darüber hinaus noch Entwicklungen in der Geschichtspolitik und im kulturellen Gedächtnis der jeweils beteiligten Nationen, in das sie entsprechend unterschiedlich eingeschrieben sind, thematisiert werden.

Im Ersten Weltkrieg war die Schlacht bei Tannenberg der erste deutsche Sieg an der Ostfront und die erste russische Niederlage. Sie war ein überraschender Erfolg und ein Befreiungsschlag, aber keine entscheidende Wende. Durch den Erfolg wurde zwar der russische Vorstoß nach Ostpreußen hinein verhindert, die großräumige Verdrängung der russischen Truppen gelang jedoch erst mit der im September 1914 folgenden Schlacht bei den Masurischen Seen. Das Aufeinandertreffen einer deutschen und zweier russischer Armeen war also nicht die von den Offizieren Schlieffenscher Prägung erträumte rasche Entscheidungsschlacht. Wie im Westen scheiterte der Plan des preußisch-deutschen Generalstabes also auch an der Front im Osten, wo der russische Aufmarsch entgegen der eigenen Annahme zügig erfolgte. Am Ende kam der deutsche operative Sieg einer strategischen Niederlage gleich, weil man fast drei Armeekorps dem Westen entzogen und zur Unterstützung gen Osten geschickt hatte. Ergo war der einzige Plan, der aufgegangen war, der französische, nämlich durch einen möglichst raschen Vorstoß des russischen Verbündeten die eigene Front entscheidend zu entlasten. Dass diese Einsicht in Deutschland durch den allgemeinen Jubel über die vermeintliche Rettung Ostpreußens, ja des deutschen Ostens überhaupt, unterging, verstellte den Blick für die Verantwortlichkeit der Obersten Heeresleitung (OHL) für diese weitere strategische Fehleinschätzung der Lage zu Beginn des Ersten Weltkrieges. Umso erstaunlicher scheint indes, wie sehr sich auch die historische Forschung von der in den Reichskriegsarchivwerken der Zwischenkriegszeit konstruierten Meistererzählung beeinflussen ließ und sich aufdrängende Fragen in diesem Kontext nie gestellt hat.

Die Wertigkeit der Schlacht in militärgeschichtlicher Perspektive ist also in mehrfacher Hinsicht eine wesentliche. Sie ist ein Paradebeispiel für ein von Anfang an instrumentalisiertes historisches Ereignis, das in einer besonderen Art von self-fullfilling prophecy die ihm zugeordneten Aussagen nachhaltig in das kollektive Gedächtnis nicht nur der Deutschen implantierte. In allen Veröffentlichungen über die Schlacht von Tannenberg 1914 wurde die althergebrachte Narration grundsätzlich unverändert übernommen und lediglich periphere Gesichtspunkte diskutiert. Selbst Großmeister der historischen Zunft wie Dennis Showalter ließen sich offenbar von der Strahlkraft des operativen Erfolgs blenden, ohne dessen überlieferte Begründungen gegen den Strich zu bürsten.

Dies bedeutet freilich nicht, alle bislang zu dieser Schlacht erarbeiteten Ergebnisse der Geschichtswissenschaft auf den Kopf zu stellen. Noch immer lässt sich an ihrem Verlauf ablesen, dass die Gründe für die Niederlage der zahlenmäßig deutlich überlegenen russischen Streitkräfte zwar letztendlich in deren militärischen Fehlern zu suchen, diese aber gleichwohl auf den defizitären Zustand der zarischen Gesellschaftsordnung und die Unzulänglichkeiten der russischen Eliten zurückzuführen sind. Die russische militärische Führung war von der eigenen Überlegenheit gegenüber den deutschen Truppen vollständig überzeugt. Tatsächlich wurde die eigene Armee zwar nach der katastrophalen Niederlage im russisch-japanischen Krieg 1904/05 modernisiert, doch die Gesellschaft wurde von der absolutistischen Staatsmacht trotz geringer Zugeständnisse nach der Revolution von 1905 weiterhin in politischer Unmündigkeit gehalten. Die Kampfmotivation der einfachen Soldaten war deswegen eher gering und an die Person des Zaren gebunden, die Auswahl der Offiziere eher gesellschaftlichen als militärhandwerklichen Begründungen unterworfen.

Solche in der Vergangenheit durchaus erkannten gesellschaftlichen Rückbindungen militärhistorischer Erkenntnisse aus der Schlacht an ihr social environment bleiben ebenso gültig wie diese selbst. Dazu gehören vor allem die weiteren Gründe für den deutschen Sieg. Hier ist allen voran die erfolgreiche Aufklärung durch Flugzeuge und die Kavallerie zu nennen, während die russischen Verbände nahezu blind auf den Gegner zu marschierten und in der Reiterei trotz der vehementen Fortschritte bei den infanteristischen Handfeuerwaffen nach wie vor eine Offensivwaffe sahen. Hinzu kam, dass die deutsche Generalität unter Führung von Paul von Hindenburg und Erich Ludendorff von vorne führte, während sich Samsonows Hauptquartier über weite Teile der Schlacht nicht bewegte und daher zeitweise einen beinahe 24-stündigen Meldeweg zwischen sich und seine Truppen entfernt gewesen ist. Erst auf dieser Basis vermochten die deutschen Truppen mit ihrer Hauptmacht gegen die 2. russische Armee vorzugehen. Den russischen Verantwortlichen wurde dies zu spät bewusst. In dieser Situation rächten sich weitere Nachlässigkeiten, die sich einerseits aus dem fatalen Überlegenheitsgefühl und andererseits aus den mangelnden Fähigkeiten der obersten russischen Führung im modernen Gefecht ergaben: So waren die russischen Truppen mit weit schwächerer Artillerie im Gefecht, weil erstens auf weitreichende, großkalibrige Geschütze verzichtet und zweitens starke Verbände (etwa 400 Geschütze) für eine weitere Offensivoperation abgezogen wurden, die gleichzeitig in Schlesien durchgeführt werden sollte. Für dorthin kommandierte Truppen wurden Ersatzeinheiten geschickt. Das Durcheinander konnten nicht einmal mehr die Armeestäbe überblicken, was nicht zuletzt an der Länge der Meldewege lag. Zudem waren die verbliebenen Geschütze lediglich mit etwa einem Drittel der Munitionsmenge des deutschen Gegners ausgestattet. Die Logistik erwies sich als so schlecht organisiert, dass nicht nur die fehlende Munition nicht ausgeglichen werden konnte, sondern es auch an Verpflegung und sanitätsdienstlicher Versorgung erheblich mangelte. So gelang es dem AOK 8, seine Verbände in einem ersten Schritt bis zum 23. August vom Gegner zu lösen, den russischen Vormarsch aus dem Süden/Südosten bis zum 26. August zum Stehen und dessen rechte Flanke zum Einsturz zu bringen. Als dann in einem zweiten Schritt am 27. August der Durchbruch durch die russischen Linien bei Usdau (Uzdowo) gelang und sich die rasch vorstoßenden Spitzen der General François und Mackensen bei Wellenberg (Wielbark) vereinigten, war die Umfassung gelungen. Die russischen Truppen, die von Mlawa her zum Entsatz heranrückten, wurden von François vor Neidenburg (Nidzica) abgeschlagen, die Schlacht damit endgültig entschieden. Die russischen Verbände hatten fast dreimal so hohe Verluste wie die deutschen, nämlich um die 30.000; weitere 92.000 russische Soldaten gingen in deutsche Kriegsgefangenschaft.

Alles in Allem existiert also eine Reihe guter Gründe, sich dieser Schlacht von Tannenberg intensiv anzunehmen. Dies geschieht gerade in einem seit Juli 2012 begonnenen Forschungsprojekt innerhalb des ZMSBw, wie das MGFA nach dem Zusammenschluss mit dem ehemaligen Sozialwissenschaftlichen Institut der Bundeswehr (SoWI) seit dem 1. Juli 2013 heißt. Daraus entstand auch der Gedanke einer militärhistorischen Exkursion in diesen Raum, die vom 16. bis 20. September 2013 unter der Führung von Friederike Höhn und John Zimmermann realisiert worden ist. Entgegen klassischer "Battlefield Tours" setzte das ZMSBw dabei gezielt auf die eigene Expertise, den Raum der Schlacht unter wissenschaftlichen Gesichtspunkten auszumessen und in seiner komplexen Gesamtheit zu erfassen. Die Erfahrbarkeit des seinerzeitigen Kampfgeschehens stand dabei von Anfang an gleichwertig neben dem Ansinnen, die Teilnehmenden für den Erinnerungsort bzw. -raum Tannenberg/Grunwald seit 1410 zu sensibilisieren sowie die Region Masuren kennenzulernen.

Für die Erfassung der Schlacht wurden angesichts der Dimensionen des auszumessenden Raumes drei "operative" Punkte ausgewählt: Das Gefecht von Orlau (Orłlowo) als Beispiel für die deutschen Truppen in der Verteidigung, das um Hohenstein (Olsztynek), um sowohl den nirgendwo derart intensiv geführten Häuserkampf zu thematisieren und die entscheidende Phase der Schlacht zu fixieren, und das Gefecht von Usdau (Uzdowo), bei dem den deutschen Verbänden der Durchbruch durch die russischen Linien gelang. Abgerundet wurden die "operativen" Anteile durch die Fahrt über die Vormarschstraße der deutschen Truppen zur Umfassung ihres geschlagenen russischen Gegners und eine Erkundung von Nikolaiken (Mikołlajki). Letztere verfolgte zwei Ziele: Zum einen ist Nikolaiken an der Masurischen Seenplatte gelegen, deren Sperrwirkung vor Ort veranschaulicht werden sollte, und die gleichwohl als Ablauflinie für die sich Tannenberg anschließende Schlacht an den Masurischen Seen diente. Zum anderen handelt es sich bei Nikolaiken um den touristisch wohl am weitesten erschlossene Ort der Region, an dem die Vor- und Nachteile ihrer zunehmend auf den Fremdenverkehr fokussierenden wirtschaftlichen Ausrichtung sichtbar werden. Damals und heute gehen gerade dort so ineinander über, dass sich die Kleinstadt zum Einstieg in die Thematik eignete. Zuvor wurden mittels einer Stadtführung durch Allenstein (Olsztyn) bereits die Grundlagen zuvorderst für die größte Stadt Masurens selbst und darüber hinaus für die gesamte Region vermittelt.

Hinsichtlich der Rezeption der Schlacht mussten gleichfalls Beispiele ausgewählt werden, die im Reichsehrenmal Tannenberg, der Gedenkstätte Grunwald, dem Ehrenfriedhof von Orlau und dem Samsonov-Stein gefunden wurden. Auf dem historischen Schlachtfeld von Grunwald bis 1960 errichtet, vermittelt die Gedenkstätte zwar zuvorderst Eindrücke zur mittelalterlichen Konfrontation. Durch die Einbeziehung derer Erinnerungsgeschichte verwebt sie jedoch die Rezeption beider Schlachten miteinander und erzielt damit Synergieeffekte, wie sie an keiner anderen Stelle möglich sind. An wohl nur wenigen anderen Orten ist das vor allem von deutscher Seite über die Zeitläufte hinweg massiv gestörte Verhältnis zu unserem östlichen Nachbarn im Wortsinn mit Händen zu greifen.

Demgegenüber stand bei den Besuchen des Ehrenfriedhofs von Orlau und des Samsonov-Steins die 1914er Schlacht im Fokus. Entgegen der Gedenkstätte Grunwald wurden diese beiden Erinnerungsorte von Deutschen angelegt, gleichwohl über viele Jahrzehnte von Polinnen und Polen erhalten. An beiden Stellen wurde über die rezeptive Annäherung hinaus die Perspektive des einzelnen Schlachtteilnehmers thematisiert, von den bei Orlau ruhenden einfachen Soldaten beider Streitkräfte bis hin zum Oberbefehlshaber der russischen 2. Armee. Mit dem Schicksal des Letzteren sind außerdem weitere Einzelschicksale deutscher und russischer Generale der Schlacht vor Ort verknüpft worden.

Einen ganz anderen Umgang mit der Vergangenheit zeigt der Platz, an dem von 1927 bis 1945 das Nationaldenkmal und spätere Reichsehrenmal Tannenberg disloziert gewesen ist. Ohne genaue Ortskenntnisse ist der Ort, auf den lediglich eine kleine Hinweistafel nahe des seinerzeitigen Zugangs aufmerksam macht, kaum zu finden. Was die Wehrmacht bei ihrem Rückzug nicht zerstört hatte, trugen hernach die polnischen Anwohner ab, so dass bis auf größtenteils überwucherte klägliche Reste vom ehemaligen Protzbau nichts mehr zu sehen ist. Im sprichwörtlichen Sinn Gras über die Sache wachsen zu lassen, ist freilich mehr dem deutschen Wüten in Polen nach 1939 geschuldet denn der Erinnerung an die Schlacht von Tannenberg. So bietet sich auch an dieser Stelle die Chance, das deutsch-polnische Verhältnis in das Exkursionsthema zu integrieren und – wie schon an der Gedenkstätte Grunwald – weit über den Zeitraum der eigentlichen Schlacht und deren militärhistorischen Horizont hinauszuheben. Nicht zuletzt ist hier der Heldenkult um den vermeintlich großen Feldherrn Hindenburg zu fassen, dessen politische Karriere ohne die Tannenberger Inszenierung überhaupt nicht vorstellbar wäre. Mit welchen Details diese Inszenierung betrieben worden ist, belegten die beiden Exkursionsverantwortlichen mit der Historisierung eines berühmten Gemäldes von Hugo Vogel: Dessen Bild vom AOK 8, der sich mittels Scherenfernrohr in der Nähe des Großen Damerau-Sees einen Eindruck vom Gefecht von Usdau verschafft haben will, wurde im Gelände rekonstruiert, wobei sich erwies, dass von dort und aus dem weiten Umkreis weder das Gefecht noch der nämliche Ort beobachtet werden konnte.

Ihren Grundgedanken folgend endete die Exkursion am letzten Abend vor der Rückreise an der Neidenburg. Dort vereinigen sich die Eckpunkte des Konzeptes Kennenlernen der Geschichte Masurens, Erfahrbarmachung der Schlacht von 1914 und Sensibilisierung für die Rezeption – in architektonischem Zusammenspiel, nämlich durch die Burg selbst als Erinnerungsort der deutsch-polnischen Geschichte seit ihrer Erbauung durch den Deutschen Ritterorden sowie als mehrmals den Besitzer wechselnder Kampfplatz während der Schlacht von Tannenberg, an dem der letzte Entsatzversuch der russischen Truppen scheiterte.

Im Ergebnis der Exkursion waren sich alle Teilnehmenden am Ende trotz aller zu Recht existenten Bedenken gegenüber einer Schlachtfeldbegehung einig: Wenn es gelingt, sich nicht vom reinen Kampfgeschehen dominieren zu lassen, dieses gleichwohl mit wissenschaftlichem Sachverstand und methodischer Praktikabilität zu untersuchen, darüber hinaus das komplexe Geflecht von Erinnerung und kollektivem Gedächtnis zu entwirren sowie Land und Menschen miteinzubeziehen, ist eine Exkursion eine attraktive Möglichkeit, historische Expertise zu vertiefen, Perspektiven zu schärfen und Einsichten zu erweitern. Dafür unabdingbar ist indes eine detaillierte Vorbereitung sowohl individueller Art als auch mittels entsprechend erarbeiteter Materialien, in diesem Fall einem umfassenden Reader inklusive eigens erstellten Kartenmaterials. Insofern bedarf die professionelle Durchführung einer solchen Exkursion eines immensen Zeit- und Arbeitsaufwandes, der im vorliegenden Beispiel allerdings zielführend gewesen ist.

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