Identitäten, Loyalitäten und Nationalitäten irischer Soldaten in der britischen Armee, 1914-1918“, MA-Arbeit LMU München
Emanuel V. Steinbacher
Miszelle
Veröffentlicht am: 
03. Februar 2020

Sehr geehrte Frau Meteling, sehr geehrter Vorstand, sehr geehrte Mitglieder des Arbeitskreises Militärgeschichte,

es ist mir eine Ehre, heute hier vor Ihnen zu stehen und den Wilhelm-Deist-Preis in Empfang zu nehmen. Dabei bin ich dem Komitee sehr dankbar, dass es der Überzeugung war, meine Masterarbeit habe diesen Preis verdient. Ebenso gilt mein Dank Frau Meteling für Ihre großzügige Laudatio. Die Abschlussarbeit meiner Studienzeit mit einer solchen Würdigung honoriert zu bekommen, hat darüber hinaus einen besonderen Stellenwert für mich, da mich mein gegenwärtiges Promotionsthema wieder weg von der Materie geführt hat. Umso wichtiger ist mir deshalb der Preis, als er mich darin bestärkt, das Themenfeld der Weltkriegsforschung weiterhin auf meiner Agenda zu behalten. Somit erlaube ich mir, im Folgenden einige thesenhafte Einblicke in meine Arbeit zu geben.1

Bei einer Kriegsgeschichte von unten steht häufig die Frage nach der Motivation der Soldaten im Raum. Besonders prominent stellt sie sich bei Minderheiten in nationalstaatlichen Konflikten. Die Iren waren dabei auf den ersten Blick vor ihrer Unabhängigkeit von Großbritannien im Jahr 1921 keine klassisch ethische oder religiöse Minderheit. Dennoch entwickelte ihre Forderung nach nationaler Selbstverwaltung, der sogenannten Home Rule, seit der Jahrhundertwende eine extreme politische Dynamik. Im Frühjahr 1914 stand das Land am Rande eines Bürgerkriegs zwischen separatistischen Katholiken im Süden und unionistischen Protestanten im Norden. Was veranlasste daher rund 110.000 katholische Iren, im Laufe der nächsten fünf Jahre freiwillig für ein Land zu den Waffen zu greifen, das als Unterdrückungsmacht galt? Wieso kämpften sie weiter trotz ihrer Kriegserfahrungen oder der blutigen Niederschlagung des Easter Rising, des irischen Osteraufstands 1916?

Um mich den irischen Soldaten und damit meinen Fragen anzunähern, nutzte ich als theoretisches Gerüst die Trias aus Identitäten, Loyalitäten und Nationalitäten. Denn alle drei Konzepte stehen meines Erachtens in einem kausalen Zusammenhang zueinander und in einem Wirkungsgeflecht mit der Motivation und dem Selbstverständnis der Kombattanten.

Dabei fungieren Loyalitäten gleichsam als Scharniere: Während Identitäten gewisse Loyalitätsbeziehungen erst ermöglichen oder auch verhindern, erklären die daraus entstandenen Loyalitäten wiederum die Entwicklung von Nationalitätszuschreibungen. Unter Loyalitäten kann man demnach parteiische Beziehungen zu Individuen, Gruppen oder abstrakten Entitäten verstehen. Diese handlungsleitenden Verbindungen werden in der Regel bei kommunikativen und performativen Akten deutlich, an denen sich besonders das Verständnis von Nationalitätszugehörigkeit zeigt.

Diese Trias entfaltete vor dem Hintergrund der Kriegserfahrungen eine spezielle Dynamik: So konstatierte Michael Jeismann, dass Kriege gleichsam als Katalysatoren wirken, welche die Beteiligten zwingen, sich zu Themen wie ihren Identitäten, loyalen Beziehungen und nationalen Selbstverständnissen zu positionieren. Die Fragen nach eben diesen Bestimmungsgrößen, ihren Verbindungen und ihrem Wandel standen daher im Zentrum meiner Untersuchung.

Das bringt mich zu meiner ersten These. Die anfangs starken kameradschaftlichen Beziehungen verschoben sich im Laufe des Krieges deutlich in Richtung institutioneller Loyalitätsbeziehungen.

Auf der individuellen Basis entwickelten die Soldaten in der ersten Kriegshälfte starke kameradschaftliche und gruppenorientierte Loyalitäten. Dafür gab es eine Vielzahl an Faktoren, wobei sich rangspezifische Unterschiede zeigten: Während sich Offiziere in erster Linie über den Offiziersstand und den Korpsgeist mit ihrer Bezugsgruppe identifizierten, konnte für die Kameradschaft einfacher Mannschaftsgrade in der Ausbildungs- und ersten Frontphase die Irischstämmigkeit als Voraussetzung postuliert werden. Dabei zeigte sich, dass die individuellen Loyalitäten die Gruppenloyalitäten erst ermöglichten, woraufhin diese wiederum die Kameradschaftsbeziehungen verstärkten.

Doch nicht nur innerhalb der einzelnen Gruppen, sondern auch über die Ränge hinweg entwickelten sich wechselseitige Loyalitätsbeziehungen. Dabei wurde deutlich, welch tragende Bedeutung der Paternalismus der Offiziere hatte, was als Einwerben von Loyalitäten interpretiert werden konnte. Die Untersuchung zeigte, dass bis zu den massiven Verlusten der 10th (Irish) Division auf Gallipoli 1915 und der 16th (Irish) Division an der Somme 1916 die Loyalitätsbeziehungen im Vergleich zu anderen britischen Einheiten zu einem exzeptionell guten Verhältnis zwischen den irischen Rängen geführt hatten.

Die Belastbarkeit kameradschaftlicher wie auch interhierarchischer Loyalitäten zeigte sich im Exkurs über die konkreten Erfahrungen bei Kampfeinsätzen. Durch den faktischen Zusammenbruch der hierarchischen Verfügungsgewalt bei Großangriffen zählte in Entscheidungssituationen vor allem die persönliche Disposition des einzelnen Soldaten gegenüber seinen Kameraden und seinem Offizier – daher waren zuvor entwickelte Loyalitäten zentral für die Aufrechterhaltung der militärischen Funktionalität der Einheiten. Dabei bestätigte sich, dass das Verhalten der Soldaten untereinander und gegenüber ihren Vorgesetzten wesentlich von bereits entwickelten Loyalitätsverhältnissen abhing.

Bedingt durch Verlusterfahrungen und das zunehmende Ausbleiben irischer Freiwilliger ab 1916, kam es unter den Soldaten zur hierarchischen Verlagerung ihrer zentralen Loyalität und Identifikation weg von den Kameradschaften hin zum Regiment. Das offerierte wie kein anderer Loyalitätsnehmer auf visueller, emotionaler und ideeller Ebene kleine, alltägliche Identifikationsangebote, die explizit irisch-nationale Bezüge hatten: Darunter fielen Uniformelemente wie Hutabzeichen, die sogenannten badges, Flaggen und Lieder ebenso wie historische Traditionen und transzendentale Bezüge, die alle die Irishness des Regiments und seiner Soldaten betonten. Angesichts dieser starken Aufladung des Regiments verblassten die Bezüge zur Armee als Ganzes wie auch zu den dezidiert irischen Divisionen, der 10th und 16th (Irish) Division. Obwohl deren identifikatorische Bedeutung von der Forschung wiederholt betont wurde, findet sie sich meines Erachtens kaum in den Egodokumenten der Frontsoldaten.

Aus dem Vergleich der verschiedenen Beziehungen konnte somit gefolgert werden, dass sich die institutionellen Loyalitäten durch ihre Beständigkeit in Belastungssituationen als langfristig äußerst stabil erwiesen und den Soldaten vor allem in Krisenphasen als emotionale Stützen dienten.

Diese beiden Loyalitätsbereiche, die individuelle und die institutionelle Ebene, bildeten die Grundlage, von der ausgehend sich im Kriegsverlauf das Nationalitätsverständnis der Iren entwickelte. Dabei konnte die These bestätigt werden, dass sich unter den Iren ein starker imperial nationalism entwickelte, also ein auf das British Empire ausgerichteter, alle Nationalitäten des Imperiums verbindender Nationalismus.

Bei einem Großteil der untersuchten Fälle war die Motivation für den freiwilligen Kriegsdienst zu Beginn der Ausbildung von dem Nationalitätsverständnis unabhängig. Diese häufig schlicht nicht reflektierte Bedeutung der eigenen Nationalität änderte sich jedoch an der Front: Indem dort andere Gruppen und Ethnien die Nationalitätszugehörigkeit der irischen Soldaten in Frage stellten, setzte ein Vergegenwärtigungs¬prozess ein. Wenn Externe – seien es britische Kolonialtruppen, Verbündete oder der Gegner – den Iren ihre nationale Zugehörigkeit zum British Empire absprachen, betonten sie ausnahmslos ihre Britishness, wobei sie sich als Teil von Großbritannien, dem privilegierten Mutterland des Empire, verstanden. Dieser imperial nationalism intensivierte sich im Laufe des Krieges.

Dem widersprach auch nicht, dass sie innerhalb ihrer eigenen peer groups und gegenüber Engländern, Schotten und Walisern ihre Irishness betonten. Vor allem den Katholizismus hoben sie hervor, den sie bewusst konträr zu ihrer Britishness verstanden. Daneben existierte ein ganzes Panorama ihrer Selbstwahrnehmung als Iren, das von stereotypen Selbstzuschreibungen wie Trunkenheit, kriegerischer Veranlagung oder Disziplinlosigkeit bis zu meist emotionalen Referenzen auf Irland, z.B. als Sehnsuchtsort, reichte. Diese Elemente ihrer Irishness waren dabei immer wieder verwoben und standen in Wechselwirkung mit anderen Loyalitäten und Identifikationen, wie den Kameradschaftsbeziehungen oder der Regimentsidentität.

Im Kontext der Nationalitätsfrage kommt dem Easter Rising als diskursive Bruchstelle der irisch-britischen Beziehungen besondere Bedeutung zu. Hierbei stellte sich zumindest implizit jedem irischen Soldaten die Frage nach seiner nationalen Zugehörigkeit. Dennoch thematisierte fast die Hälfte der 20 untersuchten Kombattanten in ihren Egodokumenten den Osteraufstand nicht. Die konkreten Gründe für diese Fehlstellen mussten zu einem gewissen Grad spekulativ bleiben. Zwar konnte die Überlegung verworfen werden, dass besagte Soldaten, ohne es zu verschriftlichen, den Aufstand stillschweigend befürworteten, ablehnten oder schlicht ignorierten. Doch bereits die Hypothese, wonach das Desinteresse möglicherweise auf ihre national indifference zurückging, erschien wegen der realen Folgen für die meisten Soldaten als unwahrscheinlich. So erscheint es am plausibelsten, dass die konkreten Frontsituationen die Reflexion über Ereignisse in der Heimat nicht erlaubten oder unwichtig erscheinen ließen. Da jedoch ausreichende Belege für beide Hypothesen fehlten, musste diese Frage letztlich offen gelassen werden und harrt damit weiterer Forschung.

Diejenigen Soldaten jedoch, die das Easter Rising thematisierten, schieden sich in die an der Niederschlagung des Aufstands Beteiligten und die an der Front Stationierten. Erstere kamen in einen Loyalitätskonflikt bezüglich der Frage, welchem nationalen Selbstverständnis sie Rechnung tragen sollten: dem irischen oder dem übergeordneten imperialen? Bei praktisch allen Soldaten und Offizieren fiel diese Entscheidung klar zugunsten ihrer britischen Nationalität aus und sie beteiligten sich – trotz der gegenteiligen Möglichkeit, es nicht zu tun – an der Niederschlagung. Bei der Gruppe der Frontsoldaten führte der Osteraufstand zu noch klareren Reaktionen: Sie lehnten ihn durchweg ab und sahen darin nicht nur einen Affront gegen ihren Einsatz im Feld, sondern eine Destabilisierung ihrer Position im britischen Heer, und sie versuchten ihm durch performative Loyalitätsdemonstrationen zum britischen Heer entgegen zu wirken.

Insgesamt erwies sich die Kombination aus den Konzepten der Identitäten, Loyalitäten und Nationalitäten als tragfähig für die Arbeit. Dennoch stellt sich abschließend die Frage nach der konkreten Bedeutung der herausgearbeiteten Beziehungen und Selbstzuschreibungen irischer Frontsoldaten, insbesondere da diese täglich durch die Realitäten des Krieges auf die Probe gestellt wurden. Einen Hinweis lieferte der einfache Infanterist E. Roe, als er am Ende seines ersten Heimaturlaubs im Oktober 1915 in seinem Tagebuch folgende Zeilen festhielt:

„no man who has been through the horrors of war likes to face it again, if only he tells the truth. […] Yet we pretend we want to go, we might as well pretend, as we know we’ve ‘bloody’ well got to go.“

Roe ließ damit zwar offen, welche konkrete Motivation ihn letztlich dazu brachte, wieder an die Front zu gehen. Doch beschied er sich und seinen Kameraden einen inneren Antrieb, der ihnen keine andere Möglichkeit ließ, als sich wieder zum Dienst zu melden. Im Zuge der Arbeit konnten hierfür konkrete Gründe herausgearbeitet werden: eine Bandbreite an Loyalitäten und Identifikationen, eingebettet in ein differenziertes Nationalitätsverständnis aus britischer und irischer Identität, scheint den Soldaten die nötige innere Einstellung gegeben zu haben.

Herzlichen Dank!

  • 1. Besonders danken möchte ich ferner Herrn Prof. Dr. Xosé M. Núñez Seixas (Santiago de Compostela) für seine anregende Betreuung der Arbeit.
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