Die Einschätzungen der militärischen Stärke und Planungen Frankreichs und Russlands durch den deutschen Generalstab 1894-1914. (Dissertationsvorhaben)
Lukas Grawe
Projektskizze
Veröffentlicht am: 
19. August 2013

Seit seiner Emanzipation vom preußischen Kriegsministerium war der Große Generalstab sowohl für die Feindbeobachtung als auch für die deutsche Kriegsplanung zuständig. Diese Aufgabenbereiche erfuhren besonders nach der Entlassung Bismarcks im Jahre 1890 einen wesentlichen Bedeutungszuwachs. Mit dem Auslaufen des deutsch-russischen Rückversicherungsvertrages und dem 1894 in Kraft getretenen russisch-französischen Bündnis begann für das Deutsche Reich die Zeit einer realen Zweifronten-Kriegsgefahr. Der Eintritt des Deutschen Reichs in die „Weltpolitik“ seit 1897 und der „unstete“ Kurs der Reichsleitung führten vor allem nach der Jahrhundertwende zu wachsenden internationalen Spannungen. Seit der Ersten Marokkokrise 1905/06 stand Europa mehrfach am Rande eines Krieges. Aus diesem Grund war die militärische Führung auf genaue Informationen über die potenziellen Gegner angewiesen, um auf die neuesten militärischen und politischen Entwicklungen reagieren und die eigene militärische Planung darauf abstimmen zu können. Der technologische Fortschritt, der Wechsel des militärischen Spitzenpersonals und äußere Ereignisse (wie die Dreyfus-Affäre 1894 und der Russisch-Japanische Krieg 1904/05) unterwarfen die Armeen der mutmaßlichen Kriegsgegner auf dem europäischen Festland, Frankreich und Russland, ständigen Veränderungen, über die der deutsche Generalstab umfassende Informationen benötigte.

Obwohl die Entstehungsgeschichte des Ersten Weltkrieges bis heute Gegenstand vielfältiger historischer Diskussionen ist, wurde die Feindeinschätzung und -wahrnehmung des deutschen Generalstabs vor 1914 in der historischen Forschung bisher vollkommen vernachlässigt. Dies erscheint umso unverständlicher, wenn man bedenkt, dass der Ausbruch des Ersten Weltkriegs und die Rolle, die der deutsche Generalstab in den Vorkriegsjahren und in der Julikrise spielte, ohne die Kenntnis der deutschen Feindeinschätzungen nicht vollständig erfasst werden können.

Um diese Forschungslücke zu schließen und neue Erkenntnisse zur militärpolitischen Informationssammlung und -verwertung vor dem Ersten Weltkrieg zu gewinnen, untersucht das Dissertationsvorhaben die Grundlagen, Entwicklungen und Bedeutungen der militärischen Einschätzungen Frankreichs und Russlands durch den deutschen Generalstab von 1894 bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs. Ziel des Vorhabens ist es, die Erkenntnisse des deutschen Generalstabs über die Armeen Frankreichs und Russlands herauszuarbeiten und darzustellen, wie diese erlangt und verwendet wurden.

Wie schätzte der deutsche Generalstab Frankreichs und Russlands militärisches Potenzial ein und nach welchen Maßstäben bewertete er dieses? Welcher Art waren die Grundlagen, Entwicklungen und Bedeutungen seiner Einschätzungen? Diese Fragen stehen im Mittelpunkt des Dissertationsvorhabens. Dabei richtet sich der Blick vor allem auf die Bereiche Taktik, Technologie, Kampfmoral und Disziplin, aber auch, um ein möglichst umfassendes Bild zu gewinnen, auf Truppenstärke, Ausbildung, (Militär-)Erziehung und (Militär-)Kultur. Auch die deutschen Erkenntnisse über die Aufmarsch- und Operationspläne Frankreichs und Russlands sollen beleuchtet werden. Anschließend werden sämtliche Einschätzungen des Generalstabs mit den realen Begebenheiten in der französischen und russischen Armee verglichen. Auch eine Einbeziehung des deutschen Militärpotenzials ist unter diesem Gesichtspunkt notwendig. Von Interesse sind in diesem Zusammenhang auch die bereits existierenden Feindbilder und – nicht zuletzt – inwieweit diese die Bewertungen des deutschen Generalstabs beeinflussten. Die auf diese Weise erhaltenen Ergebnisse können die Einschätzungen des deutschen Generalstabs rekonstruieren und somit die Frage klären, ob die Militärbehörde die gegnerischen Potenziale ernst nahm oder unterschätzte.

Wichtig ist zudem, wie sich die Einschätzungen im Gefolge der internationalen Spannungen vor dem Ersten Weltkrieg entwickelten. Die Krisen, die ab 1905 in großer Regelmäßigkeit Europa an den Rande eines Krieges brachten, haben in diesem Zusammenhang eine Doppelfunktion: Einerseits widmete der Generalstab nunmehr verstärkt seine Aufmerksamkeit der militärischen Feindaufklärung und reagierte damit auf die Spannungen. Andererseits agierte die deutsche Militärbehörde während der Krisen als „Spannungskatalysator“ und steuerte auf eine Konfrontation zu. Wichtig ist in diesem Zusammenhang, welche Rolle dabei die deutsche Feindaufklärung spielte. Wie wirkten sich die deutschen Erkenntnisse auf das Verhalten des Generalstabs aus? Waren es die Kenntnisse von der wachsenden Militärmacht der Nachbarn, die den Generalstab in der Julikrise zu einer Konfrontation drängen ließen? Bedingten somit die Einschätzungen des Generalstabs die Risikopolitik der Reichsleitung?

Die Dissertation stützt sich vornehmlich auf unveröffentlichtes Quellenmaterial. Die Quellenlage ist als außerordentlich günstig anzusehen, obwohl Teile des Heeresarchivs in Potsdam im Jahre 1945 vernichtet wurden. Diese Lücken lassen sich jedoch durch ausführliche Zweitbestände oder bisher vollkommen vernachlässigte Akten schließen. So sollen nicht nur die einschlägigen Akten des Generalstabs verwendet werden, die im Bundesarchiv-Militärarchiv zu finden sind, sondern auch die Bestände der Reichmarine und der Bestand der Kriegsgeschichtlichen Forschungsanstalt (RH 61). Einen weiteren wesentlichen Beitrag liefern die bislang noch weitgehend unbeachteten Militärattachéberichte, die im Politischen Archiv des Auswärtigen Amtes lagern. Einige weitere Überlieferungen der Generalstabsakten existieren zudem im Bayerischen Kriegsarchiv in München.

Das Vorhaben orientiert sich an den theoretischen Grundlagen der modernen Militärgeschichtsschreibung, indem es nicht nur politische und militärische Aspekte beleuchtet, sondern auch auf gesellschaftliche und kulturelle Teilbereiche eingeht. So spielen unter anderem die vor dem Weltkrieg existierenden Feindbilder und -wahrnehmungen eine ebenso wichtige Rolle wie die Auswirkungen außenpolitischer Ereignisse auf die Innenpolitik der europäischen Staaten. An dieser Stelle sei beispielhaft auf die russische Revolution von 1905 verwiesen, die während des russisch-japanischen Krieges ausbrach und weitreichende Folgen für die Armee des Zaren hatte. Mit Hilfe dieses multiperspektivischen Ansatzes soll die Arbeit Licht auf die militärpolitischen Ursachen des Ersten Weltkriegs werfen, die - im Gegensatz zu den diplomatischen Ursachen - in bisherigen Forschungsarbeiten bei weitem nicht hinreichend ausgeleuchtet wurden. Die Dissertation entsteht an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster und wird von Prof. Dr. Rolf Ahmann betreut.

Lukas Grawe, M.A.

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